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Kurapaty

Im Sonnenlicht des Frühlings wirkt der Ort fast friedlich, wären nicht die vielen Kreuze, die den Weg säumen und überall im Wald daran erinnern, was hier geschehen ist. Und die vier Speznac-Leute, die an beiden Zugängen zum Gelände demonstrativ beobachten, wer sich für diesen Teil der belarussischen Geschichte interessiert. Zwischen 1937 und 1941 haben hier nördlich von Minsk Massenerschießungen im Rahmen der „Großen Säuberung“ durch den sowjetischen Geheimdienst stattgefunden. Erste Funde von Leichenteilen wurden in Kurapaty bereits in den 60er Jahren gefunden, die Opfer wurden den nationalsozialistischen Besatzern zugeschrieben. Eine Diskussion kam erst auf, als Archäologen der Akademie der Wissenschaften 1998 erneut bei Ausgrabungen menschliche Überreste fanden und ihre Erkenntnisse erstmals publizierten.

Auf dem ca. 30 ha großen Gelände, das heute durch die Autobahn zertrennt wird, wurden 510 Massengräber entdeckt, in denen menschliche Überreste von Belarussen, Polen, Litauern sowie Juden liegen. Die Angaben zu den Opfern bewegen sich zwischen 30.000 und 250.000. Solange die Dokumente nicht freigegeben werden, besteht keine Möglichkeit, die Toten zu identifizieren. Namen sind nicht bekannt. Neben den Knochenfunden sind auch Patronen, Patronenhülsen, und diverse persönliche Gegenstände (Brillengestelle, Zahnbürsten, Hüllen, Brieftaschen, Geschirr, Schuhe und Handschuhe) ausgegraben worden. Sie befinden sich heute größtenteils in der Akademie der Wissenschaften, einige Funde werden auch im Nationalen Historischen Museum aufgewahrt, wohin sie zu einer Expertise gebracht worden waren.

Die Erinnerung an die Repressionen, Massenverhaftungen, Erschießungen und Deportationen in den 30er Jahren sind noch immer kein offizieller Gegenstand der historischen Forschung. Nur wenige Historiker bleiben hartnäckig an dem Thema dran, wie z.B. Igor Kuznecov. Bis 1938 wurden etwa drei Millionen Menschen verhaftet, davon sind ca. eine Millionen durch Erschießungen ums Leben gekommen, teils in sog. „Exekutionslagern“. Eines davon war Kurapaty. Kurapaty ist nicht die einzige solcher Erschießungsstätten, heute weiß man von fünf bis 10 in Minsk und weiteren mindestens 40 Orten in Belarus.

Nach den Funden 1988 wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das erste, das der Staat gegen seine Sicherheitsorgane jemals geführt hat. Es stellte sich heraus, dass die Opfer von sowjetischen Sicherheitsorganen ermordet worden waren. Beweise dafür sind die gefundenen Patronenhülsen, die von Revolvern des Typ „Nahan“ und „TT“ stammen, der Standardausrüstung des NKWD. Außerdem wurden Gefängnisquittungen gefunden und Dokumente mit Daten, aus denen geschlossen werden kann, dass die Erschießungen vor dem Krieg stattgefunden haben müssen.

Seit dieser ersten Untersuchung hat es vier weitere Grabungen und Untersuchungen gegeben durch die „Gesellschaftliche Kommission zur Untersuchung der Verbrechen in Kurapaty“ gegeben, 1991, 1992, 1993 und zuletzt 1998. Immer wieder wurde versucht, die Verbrechen den deutschen Besatzern anzuhängen. Auch die „polnische Spur“ verfolgt, also untersucht, ob sich unter den Opfern auch 3.000 polnische Offiziere befanden, die hier in Belarus erschossen worden sein sollen. Dies ist bis heute nicht aufgeklärt, ihre Spur verliert sich hier in Belarus. Mehr noch als die Behauptung, die Verbrechen seien von den Deutschen begangen worden, spaltet die Frage nach den polnischen Opfern des NKWD die Nation. Offiziell heißt es, wie auch immer wieder vom Präsidenten öffentlich bestätigt, dass keine polnischen Offiziere in Belarus erschossen worden seien. So äußerte sich Lukaschenko zuletzt auf der Jahrespressekonferenz am 15. Januar auf die Frage eines polnischen Journalisten. Demgegenüber behaupten Polen und einige Historiker in Belarus, dass im KGB-Archiv eine Liste existiere. Das Thema ist eines von vielen belarussisch-polnischen Streitpunkten. Gedenktafeln und Grabschmuck in Kurapaty, die sich auf polnische Opfer beziehen, werden regelmäßig entfernt oder verwüstet. Als ich in den Maifeiertagen dort war, lagen Blumen und Fahnen an einigen Kreuzen. Das wird wohl nicht lange so bleiben.

Rechtzeitig vor den Feiertagen hat das Kulturministerium ein Verbot für die Neuerrichtung jeglicher Erinnerungszeichen in Kurapaty (BelaPan 25.4.2013) erlassen. Damit soll insbesondere die Erinnerung an die polnischen Offiziere verhindert werden, so Kuznecov zu dem Verbot. Das ist ein Rückschritt hinter die bereits von gesellschaftlichen Gruppen erkämpfte Freiheit, Gedenksteine und Kreuze aufzustellen.

Platz der Staatsflagge und neuer Palast der Unabhängigkeit in Minsk

Foto: http://realt.onliner.by/2013/04/22/flag

Minsk bekommt einen neuen “Platz der Staatsflagge” sowie ein „Zentrum der Unabhängigkeit“ (BelaPan 7.5.2013). Gerüchte gab es schon lange, aber keiner wusste wirklich, was für ein riesiges Gebäude am Prospekt des Sieges in unmittelbarer Nähe zur Halle der BelExpo entsteht. Nun wissen wir es endlich.

Der Präsident ließ es sich dann auch nicht nehmen, nochmal darauf hinzuweisen, dass die aktuelle Staatsflagge durch ein Referendum 1995 vom Volk bestätigt worden sei. Auch er habe zunächst in seiner ersten Amtszeit die weiß-rot-weiße Flagge am Auto getragen. Nun komme die aktuelle Flagge noch stärker zur Geltung, im Rahmen eines neuen Unabhängigkeitszentrums für staatliche Veranstaltungen, Empfänge und Regierungsgespräche. Alle sollen sehen, so Lukaschenko, dass Belarus ein souveräner Staat und von außen nicht zu beeinflussen sei – die übliche Rhetorik.

1995 wurde tatsächlich die nach dem Ende der UdSSR vorübergehend gültige weiß-rot-weiße Flagge mit dem „Pahonja“-Emblem, die auf die historischen Bezüge des Großfürstentums Litauen, aber auch die Belarussische Volksrepublik von 1918 zurückgreift, durch die aktuelle rot-grüne Flagge mit nationalem Muster ersetzt. Sie unterscheidet sich von der früheren sowjetischen Fahne (der Jahre 1956 bis 1991) nur durch das Fehlen von Hammer und Sichel. Das Wappen (auf der weiß-rot-weißen Flagge das Pahonja-Emblem, ein schwertschwingender Reiter auf einem Pferd) ist heute ein Ährenkranz mit den Umrissen der Republik Belarus in der Mitte und einem roten Stern am oberen Rand. 75% sprachen sich für die neuen Symbole aus, allerdings hatten nur 65 % der Bevölkerung an der Abstimmung teilgenommen. Ende der 90er Jahre legte Lukschenko fest, dass der „Tag der Staatsembleme und der Flagge“ am zweiten Maisonntag begangen werden soll.

Vgl. dazu das Handbuch der Geschichte Weißrusslands, 2002.

Abbildungen finden sich hier.

Ausstellung der Görlitzer Skorina-Bibel in Minsk und Neswish

Ich zitiere die Pressemitteilung Nr. 13 der Deutschen Botschaft, Minsk, 02.10.2012:

„Am 4. Oktober 2012 um 16 Uhr findet in der Belarussischen Nationalbibliothek Minsk die feierliche Eröffnung der Ausstellung „Franzisk Skorina – Reise in die Heimat“ statt. In dieser Ausstellung wird neben den Skorina-Büchern aus der Sammlung der Nationalbibliothek Minsk erstmals die Skorina-Bibel der OLB (Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften, Görlitz, Bundesrepublik Deutschland) gezeigt. Diese Bibel umfasst 11 zu einem Konvolut zusammengefasste Bücher, die von Franzisk Skorina in den Jahren 1517-1519 in Prag gedruckt wurden. Unter diesen Drucken befinden sich auch solche, die es in der Sammlung der Nationalbibliothek nicht gibt: „Genesis“ mit dem wunderschönen Holzschnitt auf der Titelseite und die vier „Bücher der Könige“ mit dem berühmten Portrait Skorinas.

Die Görlitzer Skorina-Bibel ist eine herausragende bibliophile Rarität der OLB.  Die Drucke gelangten über ihre früheren Eigentümer zunächst von Prag nach Breslau, dann nach Görlitz, wo sie seit 1615 nachgewiesen sind. Sie werden erstmalig in Belarus ausgestellt. Sie werden vom 4.-13. Oktober 2012 im Buchmuseum der Nationalbibliothek und vom 15.- 24. Oktober 2012 im Kulturhistorischen Nationalmuseum Neswish zu sehen sein.

Die Ausstellungen stehen unter der Schirmherrschaft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland und des Kulturministeriums der Republik Belarus.“

Belarus/Weißrussland und Vilnius …

Vilnius im März mit den Ständen des Kazimir-Marktes.

… das ist ein langes und schwieriges Kapitel, und ich möchte einen Ausflug nach Vilnius zum Anlass nehmen, einen Blick darauf zu werfen. Das verbindende Element zwischen Vilnius und Belarus war an diesem Wochenende der jährliche Kasimir-Markt, der größte Handwerks- und Volkskunstmarkt in Litauen, der traditionell am ersten März-Wochenende stattfindet. Auch in Grodno stellten an diesem Wochenende Belarussen, Polen und Ukrainer nationale Volkskunst anlässlich des Namenstages des Heiligen Kazimir aus – eine Tradition, die diese historisch sehr heterogen bevölkerte Region verbindet.

Vilnius/Wilna war lange die Hauptstadt des Großfürstentums Litauen und der Polnischen Adelsrepublik mit immer starken weißrussischen Bevölkerungsanteilen. Seit dem 15. Jh. hatte die Stadt das Magdeburger Stadtrecht und entwickelte sich zu einen jüdischen Zentrum Ostmitteleuropas. Seit 1795 gehörte Vilnius in Folge der polnischen Teilungen zum Russischen Reich. Lange stellten die Litauer und Balten neben Juden Polen, Weißrussen und Ukrainer nicht die Mehrheit der Bevölkerung.

Im Ersten Weltkrieg kam es 1918 unter deutscher Besatzung zur Gründung des ersten unabhängigen Staates Litauen mit Vilnius als Hauptstadt. Bald jedoch wurde die Stadt erst von der Roten Armee, dann von polnischen Truppen besetzt, bis Litauen mit dem Versailler Vertrag unabhängig und Vilnius die Hauptstadt wurde. Als Ergebnis des Polnisch-Litauischen Krieges 1920/1921 kam Vilnius wieder unter polnische Herrschaft, was der Friede von Riga 1921 bestätigte. 1939 besetzte die UdSSR Vilnius in Folge des Hitler-Stalin-Paktes und machte Vilnius 1940 zur Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Dies wurde Vilnius abermals nach der deutschen Besatzung 1941-44.

Dass genau das ein Fehler war und Vilnius/Wilna nicht der BSSR zugeschlagen wurde, darin sind sich hier jenseits sonstiger Meinungsverschiedenheiten in Belarus alle einig. Aus ihrer Sicht ist Vilnius oder Wilna ein eindeutig weißrussisches Gebiet, in dem sich im 19. Jh. obwohl hier überwiegend polnisch gesprochen wurde, ein Zentrum nationalen weißrussischen Lebens entwickelte. Viele Schriftsteller lebten und arbeiteten in Wilna, 1906 wurde hier die erste weißrussische Zeitung „Naša Niva“ gegründet. Gerade in der Zeit zwischen 1870 und 1914 entfaltete sich hier die nationale Emanzipationsbewegung der Belarussen/Weißrussen.

Diese Entwicklung setzte sich in den 20er Jahren fort, als hier auch das erste belarussische Museum entstand. Es geht zurück auf die historisch und kulturgeschichtlich geprägte Sammlung von Ivan Luckevič. Bei seiner Auflösung 1945/46 wurden die Bestände des Museums auf die Litauische und Belarussische SSR aufgeteilt. Das Historische Museum in Minsk berichtet darüber auf seiner Website. Versuche des Instituts für Belarussische Kultur, das Museum virtuell zu rekonstruieren, sind bisher gescheitert.

Für die Expats in Minsk ist Vilnius ein willkommenes Ausflugsziel, nicht weiter als 2 Stunden Autofahrt entfernt, mit westlichen Einkaufszentren und vertrautem Angebot.   Die Ein- und Ausreise in und aus der EU ist allerdings auch mühsam und mit langen Wartezeiten verbunden und letztlich sicher eher aus kulturell-historischen Gründen lohnend.

Ausführlich zu dem häufig verwirrenden Konglomerat in der Region siehe:
Handbuch der Geschichte Weißrusslands, hg. von Dietrich Beyrau und Rainer Lindner, Göttingen 2001.

Ausstellung im Kunstmuseum

Foto: http://www.artmuseum.by/

Seit einer Woche ist im Nationalen Kunstmuseum ein Gemälde aus Litauen zu sehen, das aus mehreren Gründen seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es handelt sich um ein Portrait von Vaitiekus Puslovskis (1762-1833) von dem Maler Valentinas Vankavicius/Valentin Vankovič.

Der Portraitierte rückt das Großfürstentum Litauen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, zu dessen einflussreichsten Persönlichkeiten Puslovskis im 18. Jahrhundert gehörte. Für Polen, Litauen und Belarus ist es gleichermaßen ein Bezugspunkt nationaler Vergangenheit. Für Belarus ist es zudem ein politisches Bekenntnis, bei der offiziell verordneten Nähe zu Russland eigene Wurzeln auch und gerade in Mitteleuropa und westlicher Kultur zu suchen. Das transnational Verbindende dieses Erbes war somit auch der Tenor aller Reden auf der Eröffnung der Ausstellung.

Der Person des Malers führt indes weiter in die Tiefen und Untiefen der regional verbindenden Geschichte. Wie viele andere Persönlichkeiten des Großfürstentums wird auch Vankovič von Polen und Belarus in derselben Weise als nationaler Maler reklamiert. Belarus tut dies mit einem eigenen Museum, in dem sich freilich kein einziges Original des Malers befindet. Die Arbeiten Vankovičs sind wiederum in Polen und Litauen zu finden, so dass es nun umso wichtiger für Belarus ist, wenigstens vorübergehend ein Original des Malers ausstellen zu können. Die Situation ist symptomatisch für viele Teile des kulturellen Erbes: Es lässt sich schlicht nicht einer Nation in den heutigen Grenzen zuordnen.

Foto: http://www.artmuseum.by/

Schließlich sind die mit der Ausstellung verbundenen Slutzker Gürtel oder Schärpen der Erwähnung wert. Aus der Sammlung des Litauischen Kunstmuseums sind neben dem Gemälde vier dieser wertvollen Textilien nach Minsk gekommen und erinnern damit an die Ausstellung von 2008-2010, als in Minsk die Sammlung von Schärpen gezeigt wurde, die sich heute im Historischen Museum in Moskau befindet. Bei den Schärpen handelt es sich um eine Laibbinde, die als Gürtel zur traditionellen Kleidung weißrussischer, polnischer und litauischer Adliger zwischen dem 16. und frühen 19. Jahrhundert gehörte und auf den Reichtum ihres Trägers schließen ließ. Für die Kulturgeschichte der Region sind sie von großem Wert, was offenbar auch den Präsidenten bewogen hat, an höchster Stelle darüber zu informieren.

In Minsk und Belarus sind nur noch zwei Slutzker Gürtel vorhanden, sie befinden sich in der Sammlung des Kunstmuseums. Einst gab es eine bedeutende Sammlung von 40 Gürteln, die allerdings im Krieg verloren gin. Genaueres ist nicht bekannt, und gerade deshalb ist das Kunstmuseum an Forschungen zum Verbleib der Sammlung und sogar an einer konkreten Suche interessiert.

Die Wolfsjagd – Eine Fortsetzungsgeschichte (3)

Vorausgesetzt dieses Abenteuer folgt einer geschäftsfördernden Dramaturgie von BelGosOchota, dann ist diese Strategie bisher perfekt: Nachdem sich am ersten Tag kein einziges Tier gezeigt hat, der zweite Tag die Spannung insofern steigerte, als mangels neuer Spuren des Wolfs überhaupt kein Jagdausflug stattfinden konnte, sind wir gestern, Tag 3, in eine neue Phase eingetreten und nun alle restlos vom Jagdfieber gepackt.
Zunächst ging es bei  9 ˚C unter Null in einem ungeheizten, klapprigen Landrover Marke Eigenbau Richtung Naturschutzgebiet westlich von Ivaniec mitten in die Pushcha (in diesem Fall die Volzhinskaja oder Pershajskaja Puscha), wo am Samstag drei Wölfe gesichtet und seit Februar 2010 13 von ihnen geschossen wurden. Zunächst sollte der Treffpunkt ein Freigehege für die im Wald frei lebenden Wisente sein, die dort über die Neujahrfeiertage zur Besichtigung vorübergehend gefangen wurden. Offenbar kamen 10.000 Menschen zwei Wochen, um sie zu sehen, bevor sie wieder frei gelassen wurden. Während wir auf den Rest der Jagdtruppe warteten, kamen 16 der in der Nähe herumstreunenden Tiere ganz langsam auf uns zu. Ein bisschen unheimlich war es schon, gerade diese langsame Annäherung, bei der sich erst allmählich die imposante Größe dieser Urtiere offenbart. Schließlich waren wir fast umringt von großen und kleinen, weiblichen und männlichen Wisenten, die uns ebenso ungläubig musterten, wie wir sie. Und so standen wir eine ganze Weile und haben dieses Schauspiel in der Stille des Waldes genossen. Unterbrochen wurden wir durch den Anruf, der uns zum richtigen Treffpunkt lotsen sollte – die zuverlässige Abdeckung mit Handynetzen jedenfalls macht auch von einem dichten belarussischen Wald nicht halt.
Weiter ging es tiefer in die Pushcha hinein, vorbei an weiteren Herden von Wisenten, zahlreichen Rehen und einigen Wildschweinen (nur die Elche haben sich uns nicht gezeigt) bis zur „Hauptkreuzung mitten in der Pushcha“, d.h. eine tief verschneite Lichtung mitten im Nirgendwo, an der es allerdings tatsächlich an diesem Tag zu verschiedenen Kollisionen von bis zu 6 Autos kam. Dort kamen wir wieder zurück zu den Anfängen, nämlich das Warten auf den Wolf.
Etwa 8-10 Männer, echte Waldmenschen und Naturburschen, wie sie die zivilisierte Damenwelt nur noch selten zu Gesicht bekommt, waren für uns im Einsatz: Der Chef des Nationalparks, unser Betreuer und der Chef von BelGosOchota und vor allem die Spurensucher. Sie sind die wahren Helden der Wolfsjagd, nur sie können ihn aufspüren. Die Wolfsjagd ist eine der schwierigsten und benötigt viele Leute im Einsatz. Schwierig war es auch gestern, da es in der Nacht und auch am Tage wieder geschneit hatte und alle Spuren bedeckt waren. Und so haben wir gewartet, auf Marat und Igor, die beiden Brüder, die in der Pushcha aufgewachsen sind und eine von insgesamt sieben Häusern auf dem Gebiet des Urwaldes bis heute bewohnen. Erst wenn sie frische Spuren gefunden haben, legen sie die „Lappen“ um die Fundstelle herum und grenzen damit das Gebiet ab, in dem sich die Jäger etwa alle 300m aufstellen, um bewegungslos und schussbereit auf den Wolf zu warten.
Immer wieder kamen sie aus verschiedenen Richtungen zu unserer Kreuzung zurück, immer wieder ohne Ergebnis. Einen Wolf haben wir auch gestern noch nicht gesehen, uns dafür aber die Zeit unvergesslich vertrieben. Dazu beigetragen haben Unmengen von Selbstgebranntem, ebenfalls Unmengen von selbstgemachter Wildwurst, geräucherten Schweineohren, eingelegtem Kohl und sauren Gurken, Blinis und Waldkräutertee und viele Geschichten rund um den Wald. Wie er im Krieg großflächig gelitten, aber auch zum Straßenbau, zum Versteck der Partisanen und dem Wiederaufbau von Dörfern beigetragen hat. Wo die Tiere sich aufhalten und wohin sie zur Nacht wandern. Wo die Beeren wachsen, wo welche Bäume aufgeforstet und wie sie gepflegt werden. Wie die Menschen mit und von dem Wald leben und ihn lieben. Dass es West- und Ostbelarussen gibt und die Pushcha das Herz aller Westbelarussen höher schlagen lässt. Es wurde gesunden und gesprochen, auf belarussisch, polnisch, in einer Mischsprache, auf Mat und auch auf russisch, damit ich es verstehen konnte. Je dämmriger es wurde und je mehr Vodka floss, desto melancholischer  wurden die Waldmenschen, rezitierten Gedichte und waren froh, ihre Liebe zur eigenen Sprache, Kultur und Natur mit uns zu teilen.
Als wir nach Einbruch der Dunkelheit nach Minsk aufgebrochen sind, wobei unterwegs noch zahlreiche weitere Toasts ausgebracht wurden, war ich mir gar nicht sicher, was mich mehr beeindruckt und auch berührt hat: Die Wisente oder die Waldmenschen.

Greifbare Geschichte im Historischen Museum

Foto: http://en.belapan.com/archive/2011/10/26/en_media_vitaut/

Die Rekonstruktionen zweier historischer Figuren sind seit dem 24. Oktober im Nationalen Historischen Museum zu sehen: Großfürst Vytautas und der polnische König Jagiello. Die Figuren sind lebensgroß und wurden nach Abbildungen in historischen Quellen hergestellt. In Gesichtszügen und Kleidung, so das Museum, entsprechen sie dem historischen Vorbild möglichst nah. Genaueres ist hier nachzulesen.

Beide Figuren sind zentrale Persönlichkeiten der nationalen Geschichte, so der Direktor des Museums bei der Eröffnung. Unter Vytautas (1350-1430) gelangte der litauisch-polnisch-weißrussische Staat zu seiner größten Macht und Ausdehnung. Zusammen mit dem polnischen König Jagiello (1348?-1434) befehligte er die Armee in der Schlacht von Tannenberg (hierzulande „Grünwald“) 1410, in der der Deutsche Orden eine schwere Niederlage gegen das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen erlitt.

Beide Figuren sollen demnächst im Zentrum einer Sonderausstellung stehen.

Die Herstellung und Präsentation der Figuren ist übrigens nicht etwa der belarussischen Regierung, sondern Japan Tobacco International (JTI) zu verdanken. Das japanische Tabakunternehmen hat auch die neue Website des Museums, jetzt auf russisch und belarussisch, ermöglicht. Hier ein Video der Enthüllung der Figuren am 24. Oktober:

http://en.belapan.com/archive/2011/10/26/en_media_vitaut/ (Foto und Video)

Kurapaty

Traditionsgemäß fand am 30. Oktober wieder eine Versammlung zum Gedenken an die in den 30er Jahren bis zu 200.000 in Kurapaty bei Minsk ums Leben gekommenen Opfer des Stalinschen Terrors statt (BelaPan 30.10.2011). Anlass war der Dzyady-Feiertag, der am 2.11. begangen wird. Im belarussischen Volkskalender ist der ursprünglich als „Tag der Erinnerung an die Vorfahren“ bekannte Gedenktag zum Gedenktag aller Opfer politischer Repressionen geworden, wie übrigens in Russland auch.

Von der Konservativen Christlichen Partei initiiert, war der Marsch dieses Mal von den Behörden genehmigt. Die verbotene weiß-rote Nationalflagge war ebenso zu sehen wie Banner oppositioneller Gruppen mit den Aufschriften „Lasst uns an die Opfer von Kurapaty erinnern!“. Die Erinnerung an die historischen Ereignisse wurde verbunden mit politischen Forderungen nach der Freilassung der politischen Gefangenen und der kritischen Analyse der Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010.

Das Gedenken und die Reden in Kurapaty  selbst riefen zur Erinnerung an die nationale Vergangenheit Belarus’ in der Tradition des Großfürstentums Litauen auf. Die Rückbesinnung auf die eigene Geschichte und ihre Symbole, wie die weiß-rote Fahne, seien sehr wichtig für das nationale Selbstbewusstsein von Belarus. Dazu gehöre auch die Erinnerung an den Stalinschen Terror, an den die nunmehr fast 1.000 Kreuze in Kurapaty  gemahnten.

Zur näheren Information siehe: Temper, Elena (2008): „Konflikte um Kurapaty. Geteilte Erinnerung im postsowjetischen Belarus“, in: Osteuropa 6, S. 253-266.

„Tag des belarussischen militärischen Ruhmes“

http://belapan.com/archive/2011/09/08/media_voin_slava/

Eben diesen galt es gestern, am 8. September, zu feiern. Es ist ein Gedenktag der demokratischen Öffentlichkeit in Belarus. Er geht zurück auf das historische Datum des Sieges der Truppen des Großfürstentums Litauen über die Truppen des Moskauer Fürstentums 1514 bei Orscha, mit dem das Großfürstentum seine Unabhängigkeit behauptete. Hierzulande handelt es sich um einen inoffiziellen Feiertag, an den erst seit den 80er Jahren erinnert wird. 1992 wurde er feierlich auf dem Platz der Unabhängigkeit in Minsk mit der Vereidigung von Soldaten und Offizieren der Streitkräfte begangen. Da das Gedenken an das Großfürstentum als wichtigen Bezugspunkt der nationalen Unabhängigkeit und belarussischen Kultur offiziell nicht erwünscht ist und mit der politischen Opposition in Verbindung gebracht wird, sind größere Veranstaltungen zu diesem Datum nicht denkbar. Dennoch tauchte die (verbotene) rot-weiße Flagge in diesem Zusammenhang hier und da auf. Wie wichtig der Tag für das nationale Selbstverständnis ist, zeigt die Tatsache, dass Belarussen in anderen Ländern daran erinnern, wie das Foto aus Warschau zeigt.

Belhistory.com

So lautet die Internetadresse eines Portals zur weißrussischen Geschichte. Über Texte, Ton- und Filmdateien sowie eine Fotogalerie historischer Persönlichkeiten kann man sich hier über die Geschichte des Landes informieren, vorausgesetzt man hat keinen wissenschaftlichen Anspruch und erwartet weiterführende Anmerkungen oder Literaturhinweise. Im Mittelpunkt steht die Geschichte des Großfürstentums Litauen, über dessen Ausmaß, Kultur und Geschichte als Grundlage für das heutige nationale Selbstverständnis hier näher informiert werden soll.

Betrieben wird das Portal von der Initiative Budzma Belarusami, zu deutsch etwa „Lasst uns Belarussen sein“. Dahinter steht eine Reihe von kulturellen und gesellschaftlichen Initiativen und Vereinigungen, die sich die Vermittlung der belarussischen Sprache und Kultur durch Veranstaltungen, Buchpräsentationen und Angeboten im Internet zum Ziel gesetzt haben. Konsequenterweise wird dieses Portal ausschließlich auf belarussisch angeboten, während bei Belhistory.com einige Texte auch in russischer Sprache zu finden sind.

Seit kurzem ist auf beiden Portalen ein Kurzfilm zur Geschichte zu sehen (und bei www.budzma.org nachzulesen). Im Rap-Stil und originellem Design wird die Geschichte von Belarus in gut 5 Minuten von den Anfängen, über die Christianisierung, das Großfürstentum Litauen, die polnischen Teilungen und Napoleon bis ins 20. Jh. erzählt. Die Weißrussische Volksrepublik 1918 kommt ebenso vor wie die Gründung der Zeitschrift Naša Niwa, der Überfall der Deutschen 1941 und die Zeit nach 1945. Bezeichnenderweise endet die Erzählung 1991 mit der Erlangung der Unabhängigkeit. Text und Musik stammen von dem hierzulande bekannten Sänger Ljavon Volski.

3. Juli – Nationalfeiertag

Die Gedenktafel an dem T-34 ist nicht korrekt, so der Autor eines Artikels der Belarussischen Militörzeitung vom 12.5.2011.

Am kommenden Sonntag ist es wieder soweit: Mit Pomp und Parade feiert die Republik Belarus ihren Nationalfeiertag. Schon jetzt hängen riesige Plakate in der Innenstadt, die Hauptachsen werden nachts regelmäßig für den Verkehr gesperrt, um für die große Militärparade zu üben. Und damit es keine Missverständnisse gibt, liest man allenthalben: „Tag der Unabhängigkeit (= Tag der Republik Belarus)“. Diese Erklärung ist offenbar nötig, denn in der Tat gibt es unterschiedliche Anasichten, welches der wahre Nationalfeiertag ist.

Von 1991 bis 1996 war es der 27. Juli, der Tag, an dem die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik im Jahre 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärte. Im November 1996 machte dann Präsident Lukaschenko mit Hilfe eines umstrittenen Referendums den 3. Juli zum Tag der Unabhängigkeit und Nationalfeiertag.

In oppositionellen Kreisen, in der belarussischen Emigration sowie für viele Menschen im Land gilt schließlich der 25. März als Nationalfeiertag. Dies ist der Tag der Gründung der „Weißrussischen Volksrepublik“ im Jahre 1918, die freilich nur bis zum Herbst 1918 Bestand hatte, für viele aber heute zu einem Symbol staatlicher Souveränität geworden ist.

Historisch geht das heutige Datum des Feiertages, also der 3. Juli, auf den Tag der Befreiung der Hauptstadt Minsk von der nationalsozialistischen Besatzung durch die Roten Armee im Rahmen der militärischen Operation Bagration zurück. Ursprünglich allein zur Befreiung von Minsk gedacht, weitete sich die Operation aus und fügte der deutschen Heeresgruppe Mitte entscheidende Verluste bei, und führte letztlich zu deren Zusammenbruch. Die Folge war das Ende der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten auf sowjetischem Territorium und die Auflösung der Lager. So wurde das Ghetto Minsk am 21.10.1943 aufgelöst und die letzten 2.000 Einwohner im nahe gelegenen Vernichtungslager Malyj Trostenec ermordet.

Auch diese Inschrift in Zaslavl wurde im April durch eine weitere in der Nähe ergänzt und damit präzisiert.

Mehr als die Schrecken der Besatzungsherrschaft wird heute offiziell jedoch noch immer der militärischen Erfolge der Roten Armee gedacht. Vor diesem Hintergrund wird auch die erhoffte Symbolkraft und Wirkungsmacht der Militärparade verständlich. Ein nationaler Konsens kann offenbar jedoch auch hier nicht hergestellt werden. So beschreibt ein Artikel in der „Belarussischen Militärzeitung“ vom 12.5.2011 ausführlich die militärische Operation zur Befreiung der Stadt und weist anschließend minutiös nach, dass zahlreiche der seit Jahren im Stadtbild und der Umgebung befindlichen Gedenk- und Erinnerungstafeln falsche Inschriften zeigen. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Tafeln vom Kulturministerium, dem Institut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften und anderen zuständigen Behörden angebracht wurden. Diese ruft der Autor, ein Kriegsveteran und Generalmajor im Ruhestand, nun in einer offiziellen Zeitung zur Korrektur auf – natürlich nur, um auch hier der allseits verbreiteten „Falsifikation der Geschichte“ entgegenzutreten.

Der Große Vaterländische Krieg II: 8. Mai

Ich habe selten einen so traurig-bewegten Nachmittag erlebt wie heute. Und das, obwohl ich mich in den letzten sechs Monaten schon richtig an die russischen Schlager gewöhnt habe. Beim Kochen, auf der Eisbahn oder im Autor machen sie durchaus gute Laune. Nicht so heute, obwohl genau das wohl die Absicht war.

Wir waren beim „Festakt“ und „Feiertags-Konzert“ im Palast der Republik anlässlich der Eröffnung der Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, ob es daran liegt, dass wir nun mal die Deutschen sind. Sicher, das spielt eine Rolle, wohl habe ich mich nicht in meiner Haut gefühlt. Aber das war es nicht allein, mal ganz abgesehen davon, dass Russen, Weißrussen, Chinesen und alle anderen einem ohnehin unbekümmert zum Feiertag gratulieren.

Nein, vielmehr war es die Anstrengung der Belarussen, um jeden Preis und ausschließlich ein Fest aus dem Sieg zu machen. Was er zweifellos war; aber eben nicht nur. Kein Wort von den Opfern unter den Soldaten und der Zivilbevölkerung oder der deutschen Vernichtungspolitik, keine Rede von den verbrannten Dörfern und den ermordeten Juden.

Das gehört nicht in ein „feierliches Konzert“, aber ist dieses Format der Erinnerung überhaupt angemessen? Ja, vielleicht, und wenn es auch nur für die (noch immer) zahlreich anwesenden Veteranen so ist. Und doch: Wie fühlen gerade diese Menschen sich, die den Krieg erlebt haben, die dabei waren, die selbst gekämpft und gelitten haben? Ist es allein die Würdigung in diesen Tagen oder ist es nicht doch auch die bittere Erkenntnis, dass sich nicht wirklich jemand für den Krieg interessiert? Interessiert, indem nachgefragt, diskutiert und aufgearbeitet wird.

Sieht man von den wenigen Initiativen jenseits der staatlich organisierten Erinnerung ab, wie z.B. der Geschichtswerkstatt, dann gibt es eine ernsthafte, ehrliche und schonungslose Auseinandersetzung mit dem Krieg in Belarus bis heute nicht. Es müsste – neben der nationalsozialistischen Ideologie der „Untermenschen“, der Ausrottung der Juden, die einen großen Teil der Bevölkerung von Belarus vor dem Krieg ausmachten, von den Konzentrationslagern und der Zwangsarbeit – die Rede sein von den ersten Jahren der Sowjetunion mit Kollektivierung und Industrialisierung, von den „Säuberungen“ in der Armee und dem Großen Terror gegen die Bevölkerung, von der menschenverachtenden Kriegführung Stalins, von der Behandlung der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion nach dem Krieg, von der Angst der Bevölkerung vor den Partisanen und der Glorifizierung des „Volkssieges“. Von all dem herrscht weitest gehend Schweigen.

Stattdessen singen Stars und Sternchen jedes Jahr dieselben, alt bekannten sowjetischen Kampflieder, danken Kinder ihren Großeltern für ihren Heldenmut und tanzen die Partisanen im Wald in der Vorfreude des Sieges. All das vor dem Hintergrund einer Rede des Verteidigungsministers, der die historische Linie von der Entscheidung Belarus’, im Verbund der Sowjetunion gegen den „Faschismus“ zu kämpfen zu der Wahl Lukaschenkos 1994 und den letzten Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 zieht. Vielleicht bin ich allein mit diesem Gefühl, aber ich hatte Mitgefühl mit den Veteranen, die noch immer instrumentalisiert werden, und mit den vielen Menschen in Belarus, die sich schon lange nicht mehr allein über den Krieg definieren. Als ich nach dem Konzert auf dem Boulevard im Stadtzentrum in der Maisonne zwischen jungen und alten Belarussen nach Hause ging, fühlte ich mich ihnen ganz nah – am Tag des historischen Sieges über das nationalsozialistische Deutschland, wie sie nach neuen Anknüpfungspunkten in ihrer Geschichte, Sprache und Kultur suchen, ohne sie bisher wirklich gefunden zu haben.

Chatyn: Gedenkstätte

Übersichtsplan der Gedenkstätte

Es ist einer der ersten Frühlingstage in Belarus. Die Bäume sind zartgrün, Blumen blühen, die Vögel zwitschern. Wir wandern durch eines der zahlreichen weißrussischen Dörfer. Hier ist die Hofstelle der Novockijs (Navickis)  mit ihren sieben Kindern. Bei den Rudaks nebenan sind es drei, bei den Jackevichs sechs, der jüngste gerade mal sieben Wochen alt. In die Geräusche und Gedanken dieses stillen Nachmittags mischt sich immer wieder das zugleich friedliche wie irritierende Klingen der Glocken. Alle 30 Sekunden. Von jeder Hofstelle. Sie alle sind seit langem verwaist, ihre Bewohner im Krieg von den Deutschen umgebracht. Wir sind in Chatyn.

Chatyn ist einer der eindrucksvollsten Gedenkorte in Belarus. Ca. 30 km nördlich von Minsk gelegen, ist es zum Symbol für die im Zweiten Weltkrieg  zerstörten Dörfer in Weißrussland geworden. Im Frühjahr 1943 zerstörten Angehörige der deutschen Besatzungsarmee das Dorf in Folge eines Gefechts mit den Partisanen. Die Deutschen sperrten die Einwohner in eine Scheune und verbrannten diese mitsamt den Dorfbewohnern. Allein der Schmied Josef Kaminski und drei Kinder überlebten das Massaker.

Der Friedhof der Dörfer.

Die 1969 eingeweihte, von Leonid Lewin konzipierte Gedenkstätte setzt sich aus mehreren Elementen zusammen: Im Zentrum steht die überlebensgroße Figur des Schmieds Kaminskij, der seinen toten Sohn auf den Armen trägt. Auf dem Friedhof der Dörfer wird der 186 verbrannten, nach dem Krieg nicht wieder aufgebauten Ortschaften mit Erde aus ihrem Gebiet gedacht. Den insgesamt 9.200 zerstörten, aber wieder aufgebauten Dörfern ist ein gesondertes Denkmal gewidmet. Ein ewiges Feuer erinnert an die 2,2 Millionen Menschen, die Weißrussland im Krieg verloren hat, das ist jeder vierte Einwohner. An einer Betonwand befinden sich einzelne Gedenkstellen für die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager auf weißrussischem Gebiet. Die ehemaligen Hofstellen werden durch Betonplatten mit Schornsteinen symbolisiert, an denen eine Gedenktafel namentlich an ihre ehemaligen Bewohner erinnert.

Die Anlage ist eine Ausnahme in der Gedenklandschaft der ehemaligen Sowjetunion. Nicht Heldenmut und Verteidigung stehen hier im Vordergrund, sondern individuelles menschliches Leiden. So war es auch Ende der 60er Jahre keineswegs selbstverständlich, die Pläne der Wettbewerbsgewinner realisieren zu können.

Dass die Gedenkstätte gerade in Chatyn, und nicht in einem der anderen zerstörten Dörfer, errichtet wurde, hängt auch mit der Namensähnlichkeit zu dem in Russlang gelegenen Katyn zusammen, dem Ort, an dem 1940 mehrere tausend polnische Offiziere von sowjetischen Truppen des NKWD ermordet wurden. Auf diese Weise wollte man bewusst Verwirrung stiften und von den eigenen Verbrechen ablenken.

Die Internetseite der Gedenkstätte bietet auch in deutscher Sprache Hintergrundinformationen und viele Fotos.

Kulturoffensive

Gemäß verschiedener Präsidialbeschlüsse, zuletzt von September und Oktober 2010, ist eine umfassende strukturelle Erweiterung des Museumsbereichs in Minsk vorgesehen. Neben der bereits begonnenen Neukonzeption des Museums der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, ist die Konzeption und Realisierung eines Zentrums für Zeitgenössische Kunst geplant sowie ein Museumsviertel um das Nationale Kunstmuseum.

Die genannten Vorhaben sind im Kontext mit dem staatlichen Programm zur Förderung der „Kultur Belarus“ für die Jahre 2011-2015 zu sehen. Während die Planungen für das neue militärhistorische Museum schon seit zwei Jahren laufen, befinden sich die Projekte rund um das Museumsquartal in der Grobplanung durch das Kulturministerium, zusammen mit städtischen Behörden. Ein konkretes Gebäude ist bereits ebenso vorgesehen wie die finanzielle Unterstützung des Sponsors Priorbank.

Sowohl der Umfang als auch die Komplexität der einzelnen Teilprojekte zeigen, dass der Kultur, und speziell der Museumslandschaft, in der Strategie der belarussischen Politik eine bedeutende Rolle zukommt. Dies ist zum einen an dem vorgesehenen erheblichen finanziellen Volumen erkennbar, zum anderen an der Benennung der Zielgruppen. Die Projekte richten sich, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, an die belarussische Gesellschaft, insbesondere Jugendliche, sowie die internationale Öffentlichkeit. Damit verbunden ist das nach innen gerichtete Ziel, die eigene kulturelle Identität zu stärken sowie die nach außen orientierte Absicht, über die Verbreitung der weißrussischen Kunst, Kultur und Geschichte den Anschluss an die europäische Kultur- und Erinnerungslandschaft auszubauen.

Nachtrag zu den Kalyady-Zaren

Einer Meldung der unabhängigen Nachrichtenagentur BelPan vom 15. April zufolge, sollen neben den Kalyady-Zaren weitere 17 Rituale und Traditionen aus Belarus in die UNESCO-Liste des „immateriellen kulturellen Erbes, das dringend des Schutzes bedarf“ aufgenommen werden. Die Vorschläge wurden von Seiten der Assoziation des belarussischen Ökotourismus unterbreitet. Damit verbindet sich die Hoffnung, durch die Anknüpfung an die landestypischen Sitten und Bräuche, Touristen anzusprechen, die dann auch andere Angebote des Naturtourismus in Belarus nutzen. Dieses Thema ist hier sehr aktuell und wird häufig in den Abendnachrichten aufgegriffen, wenn neue Angebote in diesem Bereich entstehen. Hinsichtlich des immateriellen Kulturerbes, so die Assoziation, komme es aber darauf an, ein Gleichgewicht zwischen den touristischen Bedürfnissen und dem Erhalt der historischen Überlieferungen zu finden.

Auf der Liste des Weltkulturerbes stehen derzeit das mittelalterliche Schloss in Mir, das Palastensemble der Radziwiłłs in Nyasvizh, der Bialowieza-Nationalpark sowie der Struve-Bogen, ein Netz von Erdvermessungspunkten in Belarus und weiteren beteiligten Staaten.

Museum des Großen Vaterländischen Krieges III

 

Die Baustelle des neuen Museums.

Gestern meldete die Nachrichtenagentur BelPan, dass am 16. April ein landesweiter Subbotnik, ein sog. freiwilliger Arbeitstag, durchgeführt wird. Dabei sollen neben allgemeinen Aufräumarbeiten auch die Denkmäler des Größen Vaterländischen Krieges von den letzten Schneeresten befreit werden. Die Erträge sollen Kindern zugute kommen, die noch immer unter den Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl leiden. Ein weiterer Teil aber, und hier eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten für alle Museen der Welt, wird dem Neubau des Museums des Großen Vaterländischen Krieges zugute kommen.

 

Dieses erhält ein aufwendiges neues Gebäude, für den die Stadt Minsk und der Staat bemerkenswert viel Geld bereitstellen. Ziel ist die Fixierung des ideologisch geprägten Geschichtsbildes in einer symbolträchtigen Architektur. 1995 ist ebendies in Moskau auf dem Verneigungshügel geschehen, an dessen Vorbild sich der Neubau unverkennbar orientiert.

 

Der geplante Neubau. Quelle: http://www.minchanka.by/rasskazy/museum.html

Für die Einrichtung der neuen Dauerausstellung muss das Museum freilich das Geld selber aufbringen. Ob dies mit entsprechenden inhaltlichen Freiheiten einher geht, bleibt abzuwarten. Die öffentlich einsehbare Konzeption lässt Zweifel aufkommen. In Gesprächen mit den Kollegen aber ist die Aufbruchstimmung zu spüren, der Wille, ein Museum auf „europäischem Niveau“ zu machen. Darin wird das Museum vom Goethe-Institut unterstützt, das eine Reihe von Seminaren zu Fragen des Museumsmanagements für die Mitarbeiter des Museums finanziert. Eine Mitarbeiterin kann für 14 Tage Einblicke in ein deutsches historisches Museum nehmen und eine Delegation des Museums hatte gerade die Gelegenheit, Berliner Museen und Kultureinrichtungen zu besuchen, um Ideen zu sammeln und sich mit den Kollegen auszutauschen. Als nächstes soll die Rolle des Museums als Ort nationaler Erinnerungskultur  auf einer Konferenz diskutiert werden, die vom 25.-27.5.2011 im Museum stattfinden wird.

 

Nationales Historisches Museum

Blick in die Dauerausstellung.

Ambivalent fällt mein Urteil über das Nationale Historische Museum der republik Belarus (bis 2009 das Nationales Museum der Geschichte und Kultur von Belarus) in Minsk aus. Man bekommt nicht, was man erwartet, kann aber doch anregende Stunden dort verbringen.

Offenbar ist das Museum eher auf Minsker und belarussisches Publikum eingestellt, als auf Touristen und Fremde. Jedenfalls erhält man nicht, wie ich finde zu erwarten wäre, eine Einführung oder einen Überblick in die weißrussische Geschichte. Vielmehr setzt sich die Dauerausstellung aus einzelnen thematischen Abschnitten zusammen, die allenfalls ein mosaikartig zusammengesetztes Bild von der belarussischen Geschichte abgeben. Der Rundgang beginnt mit der (offenbar noch aus sowjetischen Zeiten stammenden) Präsentation archäologischer Funde auf heutigem belarussischem Gebiet. Und damit ist gleich ein zentrales Thema angesprochen: Wo und wann beginnt eigentlich „belarussische Geschichte“?  Wie hat sich das heutige Staatsgebiet entwickelt?

Leider gibt auch der weitere Rundgang, wie der erste Saal selbst, darüber keinen Aufschluss. Übergreifende Saaltexte sucht man vergeblich. Vielmehr durchwandert der Besucher einzelne Räume, die jeweils einem in sich geschlossenen Thema oder einer Sonderausstellung außerhalb eines Rundgangs gewidmet sind.

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Das orthodoxe Neujahrsfest: Die Kalyady-Zaren

Die Kalyady-Zaren in einem der Häuser im Dorf.

Das Ritual der „Kalyady-Zaren“ findet traditionell am 13. Januar statt. Dies ist der Beginn des neuen Jahres nach dem alten, dem julianischen Kalender.

2009 wurde die Zeremonie in dem südlich von Minsk gelegenen Dorf Semezhava in die Liste der „Intangible Cultural Heritage in Need of Urgent Safeguarding“ der UNESCO aufgenommen. Sie gehört damit zu den zu schützenden Elementen kulturellen Erbes in Belarus. Die Kalyady-Zaren sind Teil des Karnevals, ihr Zug durch das Dorf verbindet heidnische mit christlichen Elemente. In der Sowjetunion waren die Feiern seit 1937 verboten, wurden aber zunächst weiter geführt und waren unter der deutschen Besatzung wieder erlaubt. 1957 wurden sie erneut verboten. Bereits in den 80er Jahren kam es zu einer Wiederbelebun in der Region. Heute kann man das Spektakel wieder jährlich in Semezhava verfolgen.

Die Prozession, angeführt von jungen Männern in den Kostümen der Kalyady(Weihnachts)-Zaren, führt durch das Dorf, wobei Elemente eines traditionellen Schauspiels dargeboten werden. Die Zaren erhalten Geschenke und gute Wünsche von den Einwohnern. Der Besuch der Zaren wird als gutes Omen für das neue Jahr betrachtet und bringt den Häusern, in die sie einkehren, besonderes Glück.

Am 8. Januar 2011 wurde das Ritual auf Initiative des belarussischen Kulturministers im Rahmen des „Staatlichen Programms zur Förderung der Belarussischen Kultur 2011-2015“ mit dem Preis des Präsidenten der Republik Belarus ausgezeichnet.

Die Wiederbelebung und Auszeichnung der Zeremonie fügt sich in das allgemeine Bestreben, nationale Traditionen zu stärken.

Museum des Großen Vaterländischen Krieges I

Das Gebäude des Museums auf dem Platz der Republik.

Mitten im Zentrum der Stadt, Am Prospekt Nezavisimosti, befindet sich das „Belarussische Staatliche Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“, wie es richtig heißt. In einer Dauer- und verschiedenen Wechselausstellungen zeigt es die offizielle Sicht auf die Geschichte des Krieges gegen das nationalsozialistische Deutschland von 1941 bis 1945. Ergänzt werden die Ausstellungen durch die Präsentation von Großgerät im Außenbereich.

Bereits 1942 erhielt eine eigens zu diesem Zweck gegründete Kommission den Auftrag, Dokumente und Materialien zum Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion sowie den eigenen Abwehrkampf zu sammeln. Auf dieser Grundlage eröffnete im November 1942 die erste Ausstellung  unter dem Titel „Belarus lebt, Belarus kämpft, Belarus war und wird sowjetisch sein“. Sie wurde in Moskau in den Räumen des Staatlichen Historischen Museums am Roten Platz gezeigt. Nach der Befreiung Weißrusslands durch die Rote Armee bildete die Ausstellung die Grundlage für das neu gegründete Museum im Haus der Gewerkschaften auf den Platz der Freiheit. Die Eröffnung für die Besucher fand am 22. Oktober 1944 statt. Seit 1966 befindet sich das Museum in dem heutigen Gebäude.

Museum des Großen Vaterländischen Krieges II

Anlässlich des 65. Jahrestages seit dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges zeigt das Museum im Rahmen des Projekts „Die Parade des Sieges am 24.6.1945“ aktuell drei Sonderausstellungen. Zuerst eröffnete eine Präsentation über die sowjetische Gesellschaft im Krieg, danach eine Ausstellung über die die Lebensbedingungen und Aktionen der Partisanen. Seit dem 28.10.2010 ist auch die dritte Ausstellung zu sehen, die persönliche Gegenstände und erbeutete Waffen und Fahnen der Teilnehmer an der Siegesparade unter Einbeziehung von originalen Tondokumenten zeigt.

Ausstellungseröffnung am 27.10.2010

Auf den ersten Blick bieten die Ausstellungen nichts Neues auf die im Museum präsentierte Sicht des Krieges durch die Brille der sowjetischen Ideologie. Dieser Eindruck wird durch die traditionell überladene, in roten Farben gehaltene und sehr realistische Gestaltung unterstützt. Auch die Eröffnungszeremonien folgen alten Mustern, indem mit Orden beladene Veteranen die zur Anwesenheit verpflichtete Jugend auf die Heldentaten Stalins zum Sieg über die Faschisten und zur Befreiung von Belarus einschwören.

Auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich eine differenzierte Sicht auf die Ereignisse. Weiterlesen

Der Große Vaterländische Krieg I

Nicht zufällig ist einer der ersten Einträge in diesem Blog der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, den Kampf gegen Deutschland von 1941 bis 1945 gewidmet. Zum einen ist der Krieg nach wie vor gegenwärtig: Nicht nur die gesamte architektonische Anlage der Innenstadt ist aufs engste mit den Zerstörungen und dem Wiederaufbau nach dem Krieg verbunden, auch erinnern zahlreiche Denkmäler und Erinnerungstafeln im Stadtbild an die Geschichte.

Ein T-34 vor dem Haus der Offiziere.

Das Foto zeigt einen sowjetsicher Panzer T 34 aus dem Zweiten Weltkrieg vor dem Haus der Offiziere. Der Veteranenverband nach wie vor einen bedeutenden Einfluss auf die (Geschichts-)Politik und staatlich geprägte Erinnerung. Das Museum des Großen Vaterländischen Krieges, eines der großen und zentralen Museen in der Stadt, transportiert diese offizielle Form des Gedenkens .

Darüber hinaus ist die Kriegserinnerung in Osteuropa ein mir vertrautes Thema und damit einer von vielen möglichen Zugängen zur Geschichte und Kultur des Landes. Die Annäherung auf diesem Wege ist, wie ich es bereits aus Russland kenne, eine gegenseitige.

Der ausdrücklichen Verantwortung der Deutschen für die unter dem Nationalsozialismus begangenen Verbrechen wird in der Regel mit Respekt begegnet. Ein klares Bekenntnis zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte öffnet Türen und bereitet den Boden für den Aufbau privater und geschäftlicher Beziehungen.